Episode: Das radikale Kalifat

Am Kings College in London besteht ein „Center for the Studies of Radicalization“. Es betreibt Terrorismusforschung. Mit Schwerpunkt untersucht diese Arbeitsgruppe die Frage, was junge EuropĂ€er zum IS treibt. Praktische Gegenwartsforschung verbindet sich mit Grundlagenforschung. Ausgangspunkt war, dass britische Djihadisten in Facebook und Instagram offen ĂŒber ihre AktivitĂ€ten berichteten. Die Forscher folgten ihnen ĂŒber die Kommunikationslinien aufs Schlachtfeld. Die KĂ€mpfer zeigten sich Ă€ußerst mitteilungsbedĂŒrftig. Gewöhnlich verbrennen sie bei ihrem Aufbruch zum IS ihre PĂ€sse. Sie haben „die Schiffe hinter sich verbrannt“. Da sie mit keiner RĂŒckkehr rechnen, scheuen sich nicht, wenn sich durch lebhaften kommunikativen Austausch selbst belasten. Ihr LebensgefĂŒhl: „Noch in tausend Jahren wird ĂŒber unsere Taten erzĂ€hlt werden“. Die Forscher in London haben ĂŒber 750 solcher „Wege ins Kalifat“ verfolgt. Es geht um junge Leute, die z.B. in den Vororten von Paris das Leben eines „Losers“ fĂŒhren. FĂŒr ihr GefĂŒhl werden sie als KĂ€mpfer des Kalifats zu einem „100 % Winner“. Es geht um eine Jugendkultur und – was noch wichtiger ist – eine Gegenkultur, die GenerationskĂ€mpfe durchfĂŒhrt. Wissenschaftliche Untersuchungen, die einen Zeitraum von ĂŒber 100 Jahren erfassen, ergeben, dass Terror sich in Wellen vollzieht: von der  anarchistischen Welle, die im 19. Jahrhundert beginnt, ĂŒber den Terror im frĂŒhen 20. Jahrhundert bis zu den Attentaten der Roten Armee Fraktion in den 1970er Jahren und dem religiösen Terror, der die Twin Towers traf, seien vier Wellen zu beobachten. Eine fĂŒnfte, hybride, neuartige, sei zu erwarten. AuffĂ€llig ist die Begrenzung jeder Welle auf etwa eine Generation (30 Jahre). Auch dies spricht fĂŒr den Zusammenhang von „Jugendkultur“, Generationskonflikt und gewalttĂ€tigem Protest. AuffĂ€llig ist die Tatsache, wie schwer es ist, aus der sozialen und militĂ€risch bewachten Gruppe im Islamischen Staat zu desertieren. Der Typ des SelbstmordattentĂ€ters bedarf weiterer Forschung. In der europĂ€ischen Zivilgesellschaft wird unterschĂ€tzt, wie hĂ€ufig SelbstmordattentĂ€ter in der Geschichte und in nicht-europĂ€ischen Gesellschaften sind. Das Neue liegt in der rasanten Zunahme der FĂ€lle. Die Ă€ltere Generation in den muslimischen Gesellschaften, einschließlich ihrer Imame, ist nicht vorbereitet auf die Angriffslust der Jungen im Kalifat. Auf wesentliche Fragen Jugendlicher nach IdentitĂ€t, Droge und Sex gibt es dort keine Antworten. FĂŒr die Terrorismusforschung geht es um drei große Fragen: 1. PrĂ€vention, 2. Intervention, 3. De-Radikalisierung. Man kommt den Antworten nicht nĂ€her, wenn man die Radikalisierung des Kalifats unterschĂ€tzt. So sind dort die drei Merkmale eines Staates: Territorium, Verwaltung und Gewaltmonopol, verwirklicht, wir wĂŒrden uns aber trotzdem scheuen, dieses Gewaltgebilde einen Staat zu nennen.  Was aber wĂ€re ein besserer Ausdruck dafĂŒr? Prof. Dr. Peter Neumann, Kings College London, Leiter des „Center for the Studies of Radicalization“, berichtet.

Erstausstrahlung am 04.04.2016