Episode: Herzlichkeit der Vernunft

Ferdinand von Schirach ist bekannt als Strafverteidiger und zugleich als erfolgreicher literarischer Autor. Sein TheaterstĂŒck „Terror“ gehört an deutschen und auslĂ€ndischen BĂŒhnen zu den meistgespielten Gegenwartsdramen. In der vorliegenden Sendung geht es um den Prozess Calas, um moderne Prozesserfahrung und ihre Wiedergabe in den Stoffen des True Crime. In einer AtmosphĂ€re des religiösen Fanatismus wurde im Jahre 1762 der hugenottische Kaufmann Jean Calas wegen angeblichen Mordes an seinem Sohn in einem haarstrĂ€ubenden Prozess zum Tode verurteilt und gerĂ€dert. Bis zuletzt suchten die Justizbehörden ein GestĂ€ndnis von ihm zu erlangen. Die furchtbare Exekution ertrug Calas mit bewundernswerter Haltung. Der Philosoph, Theatermann und Anwalt Voltaire griff diesen Fall auf und setzte die Kassation des Urteils durch das königliche Obergericht in Paris durch. Europas Öffentlichkeit verfolgte mit Spannung diese Kampagne. Es war der erste Durchbruch einer kritischen Öffentlichkeit gegenĂŒber mittelalterlicher Justiz. Voltaires Schrift „Über Fanatismus“ begrĂŒndete die AufklĂ€rung im Justizwesen. Von da an wurde (außer in Diktaturen) der Ausschluss von Öffentlichkeit, also Geheimprozesse, unmöglich. Es galt kĂŒnftig Voltaires Satz: „Wenn 1.000 Zeugen etwas Unsinniges behaupten, gilt immer noch die Macht der Tatsache.“ Mit der Intervention Voltaires entstand exemplarisch der Typ des „Anwalts der Öffentlichkeit“ und der Begriff des „philosophe“ in Frankreich. Bis hin zur AffĂ€re Dreyfus war kritische Öffentlichkeit eine Institution. Diese Richtung der Vernunft kommt nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen. Es gehört Großmut, Wagemut und Entschiedenheit zu diesem Typ des kritischen Geistes. „Denken ist eine Form des Verhaltens“. Das ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je. True Crime, also die authentische Darstellung von Verbrechen und ihrer Verfolgung, gehört zu den attraktiven Stoffen der Massenmedien, aber auch der Poetik. Das reicht von Kleists Boulevardzeitung von 1810 BERLINER ABENDBLÄTTER ĂŒber Edgar Allen Poe bis zu Truman Capote und dem breiten Netz moderner Stoffe bis hin zu „Making a Murderer“ und „Drugs Inc.“. In dem GesprĂ€ch – einem Beispiel fĂŒr „GrĂŒndlichkeit“ – nimmt Ferdinand von Schirach die ReibungsflĂ€che zwischen Klischee und authentischer Dichtung ins Visier. Poetik ist „die Kunst, Unterschiede zu machen“. Kein Zeitalter hatte einen solchen Bedarf und eine solche FĂŒlle an Stoff fĂŒr die Dichtkunst vor Augen wie unser 21. Jahrhundert.

Erstausstrahlung am 24.08.2016