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Wir sind Tote auf Urlaub!

Auf den Alptraum des Ersten Weltkriegs antwortete in München 1918 die November-Revolution auf besondere Weise: sie begann früher als die in Berlin und sie war einfallsreicher. Im Februar 1919 wurde der Ministerpräsident Kurt Eisner von einem rechtsradikalen Attentäter ermordet. Danach wurde im April 1919 eine Räterepublik ausgerufen, deren Herrschaft etwa einen Monat lang währte. Sie wurde von der Reichswehr und dem Weißen Terror blutig niedergeschlagen. Legendäre Kämpfer in diesem Aufstand gegen den Krieg und die “alte Zeit”, die ihn hervorbrachte, waren Eugen Leviné, Oskar-Maria Graf und Ernst Toller.

Der Sänger und Regisseur Schorsch Kamerun und sein Ensemble, zu dem auch der ATTAC-Chor und Josef Bierbichler zählen, hat den anarchischen Ereignissen und den in ihnen aktiven Menschen ein “Konzert zur Revolution” gewidmet. Musik von Carl Oesterhelt. Uraufführung in den Kammerspielen München.

1917 – Ein Was-Wäre-Wenn-Jahr

Im 1. Weltkrieg erweist sich das Jahr 1917 als eine Besonderheit. Es ist das Jahr, in dem sich entscheidet, dass die USA in den Krieg eintreten. Erst das gibt den Ausschlag für die Niederlage von 1918. Es ist aber auch das Jahr, in dem das Deutsche Reich den 1. Weltkrieg auf kurze Zeit im Osten gewonnen zu haben scheint. Dies durch militärische Siege, aber auch die Revolution Lenins, zu dessen Programm ein unbedingter Friedensschluss mit Deutschland gehört. 1917 und Anfang 1928 reicht das deutsche Einflussgebiet über die Ukraine hinweg bis nach Tiflis. Paradoxerweise hat die Leitung des Deutschen Reiches das nicht bemerkt. Sie verlor alles im Sommer 1918. 1917 ist ein Jahr der Radikalisierung des Kriegs. Es ist “das Jahr, in dem sich jedes Fenster für einen Verständigungsfrieden schloss”. Der Historiker Prof. Dr. Markus Pöhlmann, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, berichtet.

100 Jahre Russische Revolution

Die Bilder von der Machtergreifung Lenins im Jahre 1917, verbunden mit dem „Sturm auf den Winterpalast“ in St. Petersburg, stammen alle aus Gemälden und Filmen aus den späten 20er Jahren. Wie eine Lava-Schicht liegen der spätere Terror Stalins und die ihm vorausgehende Propaganda auf den realen Ereignissen. Im Jahr 2017, also nach 100 Jahren, macht es Sinn, wie ein guter Archäologe gerade die Anfangszeiten der Russischen Revolution auszugraben.

Die zwei russischen Revolutionen von 1917, die im Februar und die im Oktober, haben ihre Wurzel in der Russischen Revolution von 1905. Sie sind ohne diesen Zusammenhang nicht zu verstehen. Der krasse Unterschied zwischen der anfänglichen Vielfalt dieser revolutionären Bewegung zu dem späteren Erstarren in der nach Stalin benannten Planwirtschaft, wird gerade auf dem Hintergrund des frischen Elans von 1905 besonders deutlich. Max Weber in Heidelberg war 1905 von den Ereignissen in Russland (vor allem im Süden des Reiches) so beeindruckt, dass er anfing Russisch zu lernen. Seine berühmte „Zeitschrift für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik“ war ursprünglich bestimmt, diese politisch-sozialen Vorgänge zu verstehen. Wladimir Lenin und Max Weber sind einander nie begegnet. Möglicherweise hätten sie sich in der ersten Stunde ihres Dialogs bereits verzankt. 100 Jahre später aber wäre es – in einem Jahr, in dem sich viele Medien mit dem 100-Jahres-Jubiläum befassen werden – interessant, sich ein Nachtgespräch zwischen den beiden Geistern über den tatsächlichen Erfahrungsgehalt und die Einzelheiten des revolutionären Prozesses vorzustellen.

Der Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Martin Aust von der Universität Bonn berichtet.

Stalins Ingenieure

Unter dem Zaren trugen russische Ingenieure Uniform. Sie arbeiteten am Aufbau der jungen Industrie Russlands und am Bau der sibirischen Eisenbahn. Sie waren aber als “Söldner der industriellen Armee”. Von ihren Dienstherren abhängig und ihrer Gesinnung nach konservativ. Für die Revolution nach 1917 war dieser traditionelle Stand der Ingenieure unentbehrlich. Ende der 20. Jahre aber im Verlauf des ersten Fünfjahresplanes der Sowjetunion wurden sie zum Ziel einer politischen Kampagne. In großen Schauprozessen wurden Ingenieure zu hohen Strafen und einige zum Tode verurteilt. Der Terror sollte diese für die Industrialisierung wesentliche Unterklasse antreiben. Die Prozesse machten sie zugleich zum Sündenbock für die Fehler der überstürzten Industrialisierung. In die durch den Terror frei werdende Positionen rückten junge, bereits in der Revolutionszeit ausgebildete Fachkräfte neu ein: Dies sind die eigentlichen Ingenieure Stalins. Sie werden in den Schauprozessen von 1936 und 1937 ebenfalls dezimiert. Ihr Idol und führender Repräsentant, der Volkskommissar Ordschonikidse, beging Selbstmord. Ohne den verbleibenden Rumpf an Stalins Ingenieuren ist aber weder der Flugzeugbau noch die Schwerindustrie, weder das spätere Weltallprogramm noch der Sieg Russlands im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Die Lebensläufe weiblicher und männlicher Ingenieure geben ein spannendes Spiegelbild der wechselhaften Geschichte der Sowjetunion und der Revolution von 1917, die im Jahr 2017 auf ihr 100-jähriges Jubiläum zurückblicken wird. Die Osteuropaforscherin Prof. Dr. Susanne Schattenberg, Universität Bremen, berichtet.

Nicht mal ich bin Stalin

Ein dynamisch in Entwicklung befindliches Gebiet der Geschichtswissenschaften ist die Emotionsgeschichte. Die Gefühle und ihre Benennungen, auch ihre Dominanzen, haben ein Eigenleben. Zorn, Autorität, Werte wechseln in jeder Generation ihre Bedeutung. Dies ist von großer Wichtigkeit, wenn man den Stalin-Kult und den Führer-Kult, also gesellschaftliche Artefakte der Propaganda, untersucht, in die – auch wenn diese Bilder künstlich hergestellt wurden und man den Mechanismus analysiert – gewaltige emotionale Bindungen der Menschen selber eingegangen sind.

Prof. Dr. Jan Plamper, Historiker an der University of London und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat diese Zusammenhänge in seinem Buch über den Stalin-Kult dargestellt. Er vergleicht darin auch die andersgelagerten, aber ebenso aus politischer Absicht von oben und emotionaler Bindung von unten entstandenen Kulte um Adolf Hitler und den Duce Mussolini, wiederum bei genauer Betrachtung zwei höchst verschiedene gesellschaftliche Produkte.

Wer Stalin als Mensch tatsächlich war, ist nicht mehr festzustellen. Seine Taten, die Propagandamaschine und die mit der Stalin-Zeit verbundenen lebensgeschichtlichen Vorstellungen der Menschen haben den authentischen Mann vollständig überlagert. Er selbst hat offenbar diese Differenz gesehen. Als er einen seiner Söhne betrunken vorfindet und ihn zurechtweist, weil er sich bei seiner Festnahme auf den Namen Stalin berief, sagt der Diktator: “Nicht einmal ich bin Stalin”.

Begegnung mit dem Historiker Dr. Jan Plamper.

Gericht über Gott

Die Russische Revolution war nach 1917 mit dem Analphabetismus in Russland konfrontiert. Es wurden Alphabetisierungskampagnen begleitet von der Elektrifizierung Sibiriens in Gang gesetzt. Die Revolutionsregierung sah aber rasch, dass sie ihre Ansätze nicht in Schriftform und nicht in Form von Paragraphen ins Volk bringen konnte. Die sogenannte “Proletkultbewegung”, die zeitweise mehr Mitglieder aufwies als die Partei, veranstaltete deshalb GERICHTSTHEATER. Auf improvisierten Bühnen wurden die neue Zeit, die neuen Gesetze und Regeln und die zu bekämpfenden Missstände abgehandelt: revolutionäres Gerichtstheater. Eine Vorführung davon im Jahr 1926, “Gericht gegen ein Kurpfuscherin”, beschreibt Walter Benjamin in seinen Moskauer Tagebüchern. Diese Gerichtstheater verbanden Unterhaltung, Volksbelustigung und Erziehung. Es gab “Gericht gegen Lenin” (das für diesen positiv ausging), “Gericht gegen einen Erntedeserteur” oder ein “Gericht über Gott” und Tausender anderer Gerichtsfälle. In der Gerichtsverhandlung diente das Publikum als Richter, ähnlich wie im jüngst aufgeführten Drama “Terror!” von Ferdinand von Schirach. In dem “Gericht über Gott” bestand das Volksvergnügen darin, dass offensichtlich keine ladungsfähige Anschrift für den Angeklagten ermittelt werden konnte. Wenn es ihn nicht gibt, kann er auch nicht verurteilt werden. Am Ende werden an seiner Stelle ein Mullah, ein Rabbi und ein orthodoxer Pope angeklagt. In der frühen Phase der Revolution, in der diese Form des Gerichtstheaters üblich war, ist man weit entfernt von den Schrecken der Schauprozesse. In ihnen macht sich die Wirklichkeit zum Theater, anstatt dass das Theater die Wirklichkeit abbildet. Dies in grotesker Umkehrung dessen, was das spielerische Gerichtstheater einst war. Die Slawistin Prof. Dr. Sylvia Sasse, Universität Zürich, berichtet.

Lebertran für den Geist

Die Theorie von Marx und die revolutionären Forderungen nach 1917 waren materialistisch. Kein Glauben an spirituelle Kräfte, Vertrauen auf die materielle Produktion und die Ökonomie. Man sollte also annehmen, dass es sachlich und nüchtern vor sich geht.

Tatsächlich gibt es eine Fülle von Projekten zur Entwicklung des Neuen Menschen, die mit spirituellen und alchemistischen Methoden arbeiten. Es gibt das „Psichon, das bio-magnetische Medium“, das die Gesellschaft durchströmt, es gibt den „sowjetischen Äther“, das „Elektroauragramm des Gehirns“, Befehle in Gedanken, die die Massen ergreifen. In die Ferne wirkende Wünsche und fernsehgrafische Leidenschaften. Noch 1989 wird die mediale Ansteckung diskutiert. Ein Geisterreich, das Menschen verbindet. Dies alles mischt sich mit der Selbstbeobachtung und der von dem Arbeitszeitmesser Taylor, der für die Ford-Werke in den U.S.A. arbeitete, entwickelten Zerlegung der Arbeitsvorgänge zum Zwecke ihrer Optimierung. Sie wurde in der Sowjetunion begeistert aufgegriffen.

Die bunte Skala der Versuche, den Neuen Menschen in Russland zu entwickeln, beschreibt Wladimir Velminski von der ETH Zürich.

Psychotechnik und Avantgarde

Die russische Revolution bedeutete für die Avantgarde eine Stunde Null. Das Schwarz im legendären Quadrat von Malewitsch war offen für alle Farben. Es durchbricht die Anbetung des Lichts und wendet sich gegen die “Tyrannei der Sonne”. Der Architekt Nicolai Ladovsky gründete ein Laboratorium, in dem die Fähigkeiten des Wohnens, des Sehens, des Bauens und des Zusammenlebens neu auf den Prüfstand gestellt wurden. Der neue revolutionäre Mensch braucht renovierte Sinne. Dem Architektenkollegen Corbusier, der während seines Moskauaufenthalts gastweise sich in Ladovskys Laboratorium testen ließ, wurde mangelndes architektonisches Sehen und eine falsche Auffassungsgabe was Räume betrifft bescheinigt. Ganz anders die Arbeiten des jungen Filmregisseurs Wsewolod Pudowkin, der seinen ersten Film über das Institut des Physiologen Pawlow und dessen Hundeversuche machte. Wiederum ganz anders war der Ansatz von Alexander Bogdanow, des Begründers der Proletkult-Bewegung, die zeitweise mehr Mitglieder aufwies als die bolschewistische Partei. Er propagierte die radikale Zusammenarbeit von Stadt und Land und die “Organisation gesellschaftlicher Erfahrung”. Er vertrat aber auch die “Sozialisierung des Blutes”. Der Gleichheit nähern wir uns erst an, wenn die älteren Menschen massenweise ihr “erfahrenes”, immunologisch gefestigtes Blut mit dem junger Menschen austauschen. Deren Blut wiederum bringt den Alten neue Kraft und Lebensverlängerung. Bei einem Selbstversuch in dieser Richtung starb Alexander Bogdanow aufgrund der Organabstoßung, die den menschlichen Immunkräften eigen ist. Wie bei einer Explosion streben die Tendenzen der Avantgarde unmittelbar nach 1917 in alle Richtungen vorwärts und auseinander. Alles dieses Neue wird nach wenigen Jahren durch die aufkommende Bürokratie erstickt. Dr. Margarete Vöhringer, Kunst- und WIssenschaftshistorikerin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, über die revolutionäre Welt unmittelbar nach 1917 in Russland.

Revolutionen in Frankreich

Der Autor Eric Hazan, Chef des renommierten Buchverlages LA FABRIQUE, schrieb zwei Bücher: “Die Geschichte der Französischen Revolution” und “Die Entstehung von Paris”. In dem Gespräch mit ihm geht es um die Frauen der Revolution, um die Barrikaden in Paris und die Verschiedenheit der Commune von 1871 gegenüber der Revolution von 1848, in der die Arbeiterklasse isoliert blieb und unterlag. Davon verschieden ist die Juli-Revolution von 1832 und die Großen Französischen Revolution von 1789. Die Kämpfe finden zu Anfang im Zentrum von Paris statt und gehen allmählich in den folgenden Revolutionen in die Peripherie, die Vorstädte, wo die Arbeiter wohnen. Die Erzählung von den Revolutionen ist fast immer überdeckt durch die nachträgliche Deutung durch diejenigen, die ihr nachfolgten. Wie Lava bedecken spätere Phrasen die Fundorte. So ist es, wie Eric Hazan betont, eine Phrase, dass in der Revolution von 1789 das Bürgertum die Feudalherrschaft ablöste. Der Adel war durch Könige wie Ludwig XIV längst entmachtet. In der französischen Sprache unterscheidet man deshalb den Bürger (le bourgeois) von den Gründern der neuen Republik (les citoyens). Die Revolutionäre der ersten Französischen Revolution waren besonders jung. Sie lassen sich in kein Klassenschema und in keine äußere Logik einfügen. Sie sind “enragés” und im revolutionären Moment “außer sich”. Begegnung mit Eric Hazan, dem besten Kenner von Paris und seiner Revolutionen seit Jules Michelet.