Europa ja – aber welches?
Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter a.D. und Rektor a.D. des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Hochschullehrer an der Humboldt-UniversitĂ€t Berlin, hat mit seinem Buch EUROPA JA – ABER WELCHES in der Legitimationskrise der EU einen energischen VorstoĂ unternommen. Er fordert einen erneuerten politischen und rechtlichen Grundriss fĂŒr die EU. Er fragt nach den Reserven fĂŒr zusĂ€tzliche Legitimation fĂŒr das, was in BrĂŒssel geschieht. Der Eintritt der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs in den Kreis der Völker war nur möglich durch die europĂ€ische TĂŒr. Am Anfang stand dabei ein umfassendes Vorhaben, das die Integration von Kohle und Stahl mit dem Projekt einer europĂ€ischen Verteidigungsgemeinschaft (aus jedem Lande der europĂ€ischen Gemeinschaft steht ein Soldat in der Kompanie neben dem anderen) und einer POLITISCHEN UNION umfasste. Die politische Union kam nicht zustande. Aus der europĂ€ischen Verteidigungsgemeinschaft wurde die NATO. Ăbrig blieb die Wirtschaftsgemeinschaft. Sie beruhte auf den Römischen VertrĂ€gen. Die Legitimation resultierte aus VertrĂ€gen zwischen souverĂ€nen, selber demokratisch kontrollierten EinzellĂ€ndern. Als 1987 die EuropĂ€ische Union zu stagnieren schien, entstand mit den Maastrichter VertrĂ€gen eine neue Struktur: Jetzt waren MehrheitsbeschlĂŒsse möglich. Es konnte sein, dass ein Land Regelungen hinnehmen muss, die von ihm und seiner WĂ€hlerschaft nicht gebilligt wurden. Um dieses Legitimationsdefizit zu mindern, wurde aus der Parlamentarischen Versammlung das EuropĂ€ische Parlament gegrĂŒndet und von Periode zu Periode mit mehr ZustĂ€ndigkeiten versehen. Problematisch blieb, sagt Dieter Grimm, dass dieses Parlament durch bloĂ addierte nationale Wahlen zustande kommt. Die nationalen Parteien wiederum, die der WĂ€hler wĂ€hlt, sind nicht identisch mit den europĂ€isch organisierten Fraktionen in StraĂburg. Die europĂ€ischen WĂ€hler wĂ€hlen also etwas anderes als das, was anschlieĂend politisch geschieht. Der wichtigste Mangel an Legitimation aber entstand durch zwei bahnbrechende Urteile des EuropĂ€ischen Gerichtshofes. Dieses Gericht machte aus Dekreten der EU Rechtsnormen mit Verfassungsrang. Diese sind einklagbar durch die Rechtssubjekte in den einzelnen Staaten, somit vor allem auch durch die marktbeherrschenden Unternehmen. Dies schafft eine Schlagseite der EU zu vorwiegend wirtschaftlichen Fortschritten und eine VernachlĂ€ssigung der politischen, sozialen und kulturellen Aspekte, wie sie in den Verfassungen der Einzelstaaten und in der nationalen Struktur vorgegeben sind. Mit groĂem Ernst stellt der Verfassungsrichter a.D. Prof. Dr. Dieter Grimm die Frage: Was ist zu tun, damit die SouverĂ€nitĂ€t (“Wer hat im Ernstfall den Letztentscheid ĂŒber Angelegenheiten von Leben und Tod?”) sich mit der pragmatischen Alltagspraxis der machtvollen EU-Administration adĂ€quat verbindet? Ist es richtig, die Entscheidungen an dem zu orientieren, was sich leicht entscheiden und wofĂŒr sich Einigungen problemlos erreichen lassen? Oder wĂ€re es auch möglich, “an der Widerstandslinie entlang”, gerade durch Strapazierung der EU an den am schwersten lösbaren Fragen (Baskenland, SĂŒditalien, Osteuropa, Grenzregime, Griechenland, Schuldenberg) Erfahrungen und Legitimationen zu erarbeiten? JĂŒrgen Habermas spricht von einer doppelten SouverĂ€nitĂ€t, und einem doppelten BĂŒrgerrecht der EU-BĂŒrger: Sie seien Patrioten ihres Landes und (gewissermaĂen mit einem zweiten Hut) Patrioten Europas. Zumindest nach den Lissabonner VertrĂ€gen, urteilt Dieter Grimm, ist dieser wĂŒnschenswerte Zustand keine RealitĂ€t. Ein grĂŒndliches GesprĂ€ch ĂŒber Europa.
Erstausstrahlung am 27.07.2016