Alchemie des Denkens

Der Lebenslauf von Bernard Stiegler ist spannend. Nach 4 Raubüberfällen in seinen Jugendjahren saß er 5 Jahre im Gefängnis. Heute ist Bernard Stiegler einer der führenden Philosophen Frankreichs und lehrt in London und Paris. In seinen Werken DIE LOGIK DER SORGE und ARS INDUSTRIALIS entwickelte Stiegler einen überraschenden und modernen Zugang zu den Kategorien der Aufklärung. Wir müssen lernen, sagt er, die Ursache von uns selbst zu sein. Seine Gedanken stützen sich auf Gilles Deleuze und Jacques Derrida, gehen aber in ihrer konsequenten Fortführung über diese Denker hinaus. Stiegler leitet auch ein digitales Forschungszentrum im Centre Pompidou in Paris: das Institut de recherche et d’innovation (IRI). Begegnung mit Bernard Stiegler.

Erstausstrahlung am 04.08.2014

Vom Salz der Freiheit

Unbestechliche Beobachter, immun gegen die Versuchungen der Unfreiheit im 20. Jahrhundert, geboren zwischen 1900 und 1910 – das sind die Beispiele, an denen der große Soziologe Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf einen Typ des Intellektuellen festmacht, dessen ganze Lebenskraft sich auf das Beobachten, das Unterscheidungsvermögen und die Unabdingbarkeit der Freiheit bezieht. Diesen Charaktertyp führt Dahrendorf auf den Humanisten Erasmus von Rotterdam zurück. Zugleich sieht er ihn auf dem Hintergrund des Aufstiegs der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 17. Jahrhundert. Davon handelt sein neues Buch “Versuchungen der Unfreiheit: Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung” und seine Biografie “Über Grenzen”. In beiden Büchern, wie fast allen anderen, die Dahrendorf veröffentlichte, geht es um die LEIDENSCHAFT DER VERNUNFT. Begegnung mit dem Soziologen, Autor und Politiker Prof. Dr. Lord Ralf Dahrendorf, Mitglied im britischen Oberhaus.

Erstausstrahlung am 16.07.2006

Gebt mir die Zukunft und ich werde die Welt bewegen

Die Moderne im 20. Jahrhundert entsteht auf zwei ganz verschiedenen Seiten: aus dem Projekt der Aufklärung und aus der “Sehnsucht nach Ordnung”. In beiden Fällen, vor allem aber bei der Sehnsucht nach Ordnung, verschränken sich Mythos und Moderne. Der Zeitgeschichtler Fernando Esposito, DHI London und Universität Tübingen, untersucht diese Frage sowohl für die Hochkunst als auch in der massenhaften Populärkultur. Man versteht die Moderne schlecht, sagt er, wenn man die Linie der “konservativen Umstürzler” auslässt. Das Idol, gleichzeitig für Mythos und Moderne, ist der Homo volans, der fliegende Mensch, das Bild des Ikarus, der stürzt und wiederaufersteht. Die Futuristen sind nicht begriffen, wenn man sie bloß unter dem Faschismus subsumiert. Das Vertrauen in die Aufwärtsbewegung des Fliegens findet sich bei dem Aufklärer und analytischen Geist Aby Warborg ebenso, wie bei Marinetti oder schon auf der Flugschau in Brescia 1909.

Erstausstrahlung am 27.06.2011

Der öffentliche Mensch

Über 2.000 Jahre hin, von Ovid über Montaigne, Erasmus bis zu Karl Popper oder Theodor Eschenburg, gibt es den unbestechlichen Beobachter. Ihn kennzeichnet die besessene Lust, Unterschiede zu machen. Unter diesen Charakteren finden sich die Vertrauenspersonen des freien Denkens, denen der große Soziologe, Autor und Politiker Lord Ralf Dahrendorf (Lord, weil er dem britischen Oberhaus angehört) sein Interesse widmet. Freies Denken und Selbstvertrauen, sagt Lord Dahrendorf, sind verbundene Gefäße. Es geht um die Tugenden und Schwächen des “öffentlichen Menschen” (Homo publicus).

Erstausstrahlung am 01.10.2006

Der Philosoph als fliegender Fisch

Bernard Stiegler, einer der führenden Denker Frankreichs, über den Beruf des Philosophen. Stieglers Zeichen (auch Markenzeichen seines Instituts am Centre Pompidou) ist der “fliegende Fisch”. Aus ihrem Element, dem Wasser, springen fliegende Fische in ein fremdes Element, die Luft, um dann mit neuer Erfahrung wieder in ihrem Element einzutauchen. Erkenntnis geht immer über die Grenze hinweg und hat die reichsten Resultate unmittelbar an der Widerstandslinie zum Unbekannten, dem Fremden, dem Antagonismus. Eines der Bücher von Bernard Stiegler hat den Titel LOGIK DER SORGE. Wie bei Derrida und Heidegger wird der Begriff “Sorge” in verschiedenen Richtungen interpretiert: als Prinzip der Vorsicht und als Prinzip des Sich-Mühe-Gebens. Grundlage des Denkens ist für Stiegler das Begehren. Bei der Entwicklung der Intelligenz eines Kindes werden die Impulse des Kindes durch das Bild der Erwachsenen, vor allem der Mutter, gebrochen und aus “Trieb” in “Begehren” verwandelt. Dies ist die Arbeit der libidinösen Kräfte, der wahren Einwohner eines jeden Menschen. Sowohl die libidinöse Struktur wie die Prägung durch die Eltern nennt Stiegler ein “Pharmakon”. Es kann sich als Gift und als Heilmittel auswirken. Stiegler beschreibt, wie sich Werbung, Medien und Markt an den libidinösen Kräften in den Menschen bereichern. Der Markt akkumuliert nicht nur die ganzen Menschen, sondern die Elemente in ihnen, die das eigene Denken hervorbringen, für seine Ausbeutung. Um diesen Kampf Kapital versus Sorge, menschliche Lebenswelt gegen Kapitalwelt geht es Stiegler. Für ihn gehört die permanente Auseinandersetzung zum Beruf des Philosophen, so wie für den fliegenden Fisch der Sprung aus dem Wasser in die Luft und wieder zurück zum Leben gehört.

Erstausstrahlung am 05.10.2014

Drei Fabeltiere

Prof. Dr. Josef H. Reichholf rekonstruierte das wahre Vorbild und den Ursprung der drei mythischen Fabeltiere. Keines der drei ist ursprünglich ein reines Fantasiewesen. Der Phönix entspricht einem wirklichen afrikanischen Zugvogel, die Sage von den Drachen geht in Europa auf riesenhaft gewachsene Metallarbeiter zurück, die aus dem Altai-Gebirge in den Westen wanderten und außerhalb menschlicher Siedlungen in Höhlen lebten. Das Einhorn geht auf eine seltene und unzähmbare Art von Gazellen zurück. Die Ableitungen des Evolutionsbiologen Prof. Dr. Reichholf verblüffen.

Erstausstrahlung am 04.02.2013

Weltwissen

Seit 300 Jahren gibt es die Wissenschaften in Berlin. Am Anfang steht G.W. Leibniz, der große enzyklopädische Geist. Eine große Ausstellung im Gropius-Bau widmet dieser Tradition eine Sammlung. Es geht um die Elemente, aus denen WELTWISSEN besteht: Lernen, Sammeln, Kooperieren, Vermessen, Reisen und Interpretieren. Prof. Dr. Markschies, Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, gehört zu den Veranstaltern und berichtet.

Erstausstrahlung am 09.05.2011

Woher weiß die Uhr, wie spät es ist?

In einer berühmten antiken Erzählung sitzt ein Fischer müßig am Ufer. Ein Besucher fordert ihn auf, die Zeit zu nutzen, Fische zu fangen. Er könne sich dann ein neues Boot kaufen, ein Geschäft eröffnen und das Geld sammeln, damit er sich später zur Ruhe setzen könnte. Der Fischer antwortete: „Das tue ich doch schon gerade.“ Der Umgang mit der Zeit, mit Eile und Muße, ist in unseren Tagen genauso eine offene Frage wie in der Zeit des Kirchenvaters Augustinus. In gewisser Hinsicht sind wir Menschen Uhren. Eine Uhr misst die Relationen in Raum und Zeit. Sie misst aber nicht die Zeit selbst. Die ist eine der großen, nicht leicht erklärbaren Kategorien des menschlichen Vorstellungsvermögens. „Die Uhr ist eine Maschine, die nichts produziert.“ In der Antike wird sie repräsentiert durch den Gott Chronos, der seine Kinder verschlingt. Es gibt aber auch einen winzigen Glücksgott, den Kairos, der mit den Menschen und ihrer Zeit auf andere Weise umgeht. Der Historiker Alexander Demandt hat in seiner Kulturgeschichte der Zeit ein faszinierendes Porträt unseres ständigen Begleiters geliefert, der Zeit.

Erstausstrahlung am 29.08.2016

“Immer radikal, niemals konsequent”

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Walter Benjamin 22 Jahre alt. Er gehört zu dieser Zeit zu einer der Fraktionen der Jugendbewegung, die einen neuen Menschen ins Auge fasst. In den 30er Jahren arbeitet er eng mit Bert Brecht zusammen. 1940 begeht er, auf der Flucht vor den Häschern des Dritten Reichs, Selbstmord. Sein Werk, das eine stark fragmentarische und zugleich eine Struktur der Zusammenhänge aufweist, gehört zu den Grundfesten der Moderne. Mike Jennings, Princeton University, ist der Biograf Benjamins. Alle Texte und Werke Benjamins greifen die Dinge an der Wurzel und sind im wörtlichen Sinne des Wortes „radikal“. Niemals beugt sich Benjamin jedoch einem Schema, einer Doktrin, einer bloßen Fortsetzung eines gefundenen Ansatzes aus Verstandesgründen. Vielmehr geht es ihm, sagt er, darum, die in der Ding- und Warenwelt und die in den Phantasmagorien der menschlichen Köpfe verborgenen ungeschriebenen Texte zu lesen. Dazu gehört Offenheit, nicht bloße „Konsequenz“. Auch in der für die europäische Moderne zeitweise aussichtslosen Situation, als der Faschismus in Europa überall im Vordringen ist, sucht Walter Benjamin – gemeinsam mit Bert Brecht – nach den Elementen eines Neuanfangs. Noch als die deutschen Truppen 1940 schon zu ihrem Sprung nach Paris ansetzen, schreibt Benjamin an seinem Passagenwerk und vor allem an dem Projekt über seine Berliner Kindheit. Er verbindet die Erfahrung eines Erwachsenen mit den stets neugierigen Augen eines Kindes: Ein Fall von „philosophischer Neotenie“. Ein Blick auf den kreativen und beharrlichen Widerstandsgeist Walter Benjamins.

Erstausstrahlung am 11.10.2016