Das Nachkriegseuropa und die EU basieren auf der Achse zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Das war fĂŒr Frankreich historisch nicht selbstverstĂ€ndlich. Frankreich war immer auch ein mittelmeerisches Land und die Idee einer Mittelmeer-Union, eines lateinisch dominierten Mittelmeerreichs war fĂŒr die französische Tradition stets lebendig: Outremer. Wolf Lepenies, lange Zeit Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin und Hochschullehrer in Princeton und an Berliner UniversitĂ€ten, knĂŒpft in seinem Werk DIE MACHT AM MITTELMEER an Fernand Braudels Klassiker LA MEDITERANNEE DANS LE SIECLE DE PHILIP II, das Standardwerk der bekanntesten Historikerschule Frankreichs, der ANNALEN, an. Aus diesem Werk kommt auch die Perspektive der “longue durĂ©e”. Dieser Perspektive folgt die Untersuchung von Wolf Lepenies quer durch das Dickicht wechselnder AktualitĂ€ten. Bei Braudel steht die Seeschlacht von Lepanto im Zentrum, an der sich entschied, ob das Mittelmeer osmanisch oder westlich beherrscht wird. TatsĂ€chlich ist diese Frage nie endgĂŒltig entschieden worden, auch wenn die IdentitĂ€t der MĂ€chte wechselte. Noch heute zeigt der FlĂŒchtlingsstrom und der Krisenherd im nahöstlichen Bereich verblĂŒffend, wie löcherig, umstritten und bebengefĂ€hrdet die Macht am Mittelmeer ist. Das Buch versucht, die Sache mit den Augen Frankreichs zu sehen. Da findet sich Napoleons Zug nach Ăgypten. Jahrzehnte spĂ€ter marschieren die LegionĂ€re Napoleons des Dritten in Syrien und Afrika ein. Einen Moment lang scheint es, dass Mittelmeer, Afrika, Frankreich und die Welt der groĂen Weltausstellungen hier im SĂŒden eine neue Wirklichkeit schaffen. Das geht mit dem preuĂisch-deutschen Sieg bei Sedan verloren. Aber noch in den Jahren nach 1945 verfolgen Charles de Gaulle und Robert Schuman, der MitbegrĂŒnder der Montan-Union, Projekte, die sich auf Afrika, den Nahen Osten und eine Mittelmeer-Union beziehen. Eine Arbeit des politischen Publizisten Alexandre KojĂšve, von der man nicht weiĂ, ob sie Charles De Gaulle vorlag und ihn beeinflusste, entwickelt ein plastisches Modell der Mittelmeer-Union als Schwesterprojekt zur E.U. Als PrĂ€sident Sarkozy Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands dieses Projekt neu aufgreifen wollte, wurde es durch deutschen Starrsinn blockiert. Man muss sich, sagt Wolf Lepenies, vorstellen, was die Wirkung einer Mittelmeer-Union, ausgehend von Frankreich, unterstĂŒtzt von der E.U., gewesen wĂ€re, wenn es sie zum Zeitpunkt des “Arabischen FrĂŒhlings” gegeben hĂ€tte. Möglicherweise sĂ€hen wir dann heute kein bombardiertes Aleppo. Lateinamerika, bezogen auf die spanische Sprache, steht dem Projekt Latein-Afrika, bezogen auf die Frankophonie, gegenĂŒber. Insofern ist eine Kooperation im SĂŒden und im Nahen Osten in Gefahr, aber nicht endgĂŒltig verschlossen. Es bedarf einer Abkehr von der politischen OberflĂ€chlichkeit und von der Hybris, mit der Europa vor allem dem Kontinent Afrika begegnet, damit solche heterotopischen Chancen wahrgenommen werden. Begegnung mit Wolf Lepenies und seinem spannenden Werk DIE MACHT AM MITTELMEER. FRANZĂSISCHE TRĂUME VON EINEM ANDEREN EUROPA.
Erstausstrahlung am 28.02.2017